Am 5. Mai 2020 wurde von JAST USA die englische Version von Kimi to Kanojo to Kanojo no Koi (auch bekannt als Totono) unter dem Titel You and Me and Her: a love story veröffentlicht.

Wenn DU, lieber Leser, diese Visual Novel noch nicht gelesen hast, dann müssen wir uns gleich schon wieder trennen, denn der folgende Text wird nicht nur keine Rücksicht auf Spoiler nehmen, sondern sich sogar intensiv mit den Spoilerinhalten beschäftigen.

Totono sollte „blind“ und ohne Guides gelesen werden – das gilt in diesem Fall noch mehr als bei anderen Eroge. Nur so bekommt man das volle Erlebnis. Der Artikel hier rennt nicht weg, ich warte gerne. Viel Spaß beim Lesen!

SPOILERWARNUNG! Letzte Chance!!!

Hast DU fertig gelesen? Wunderbar!

Totono ist ein High School Eroge?

Wer Totono ohne Vorwissen beginnt, bekommt auf den ersten Blick eine typische Erogekost aufgetischt. Der Protagonist ist ein Schüler namens Shinichi, der eine enge Kindheitsfreundin (Miyuki) und einen ulkigen Idiot Friend (Yuutarou) hat. Trotz starker gegenseitiger Gefühle sind Shinichi und Miyuki kein Paar, weil er sich für zu unscheinbar und langweilig hält und darum keine Beziehung mit der sehr populären und geachteten Kindheitsfreundin zulässt. Das beginnt sich erst zu ändern, als die beiden ein exzentrisches Mädchen namens Aoi kennenlernen, das offenbar vorhat, die beiden zu verkuppeln.

Aoi spricht die meiste Zeit in Visual Novel-Terminologie und hat scheinbar Probleme, zwischen Realität und Spiel zu unterscheiden. Sie warnt vor falschen „Flags“ und ist eifrig bemüht, den Protagonisten auf die richtige „Route“ zu führen. Aus diesem Grund ist sie sozial isoliert. Shinichi hat Mitleid mit Aoi und freundet sich mit ihr an. Zusammen mit Miyuki bilden die drei schließlich eine Freundesgruppe.

Bis hierhin ist Totono nichts besonderes, vielleicht sogar aufdringlich gewöhnlich. Ich habe jeden Moment gehasst. Aois Brüche der Vierten Wand sind nicht besonders originell und der Held ist ein feiger Versager, der ein bereits in ihn verliebtes Mädchen zurückweist, weil sie aus seiner Sicht zu gut für ihn ist?! Natürlich kommt dann auch noch ein putziger Tiercharakter. Ich sah den weiteren Verlauf schon vor mir: zwei Routen, irgendein dahergeholtes Drama, Sexszenen und Credit Roll.

Dieser generische Aufbau wird dann aber doch schnell durchbrochen: Aoi, augenscheinlich ganz in ihre Erogewelt vertieft, ruft „Gott“ an und bittet ihn, das Spiel zu „patchen“, damit Shinichi und Miyuki auch wirklich ein glückliches Paar werden. Dann kommt der Twist: das passiert wirklich! Der Himmel verfärbt sich blutrot, Pixelartefakte verzerren den Bildschirm.

Totono ist meta?!

Die restliche Miyuki-Route bleibt zunächst aber noch „normal“, alles ist romantisch und mit Happy End. Man verspricht ihr die Treue und die beiden werden doch noch ein Paar. Man fragt sich, ob die Metaszene vielleicht nur ein Traum war. In der Aoi-Route wird der Ton dafür dunkler, es kommt das Gerücht auf, dass Aoi den Protagonisten betrügt. Miyuki ist erstaunlich motiviert, ihr auf die Schliche zu kommen. Es kommt heraus: Aoi betrügt Shinichi tatsächlich, ausgerechnet mit dem kleinen Bruder vom Idiot Friend, der sich immer als Mädchen verkleidet.

In diesem Routenfinale vollzieht Totono eine komplette Wende und beweist, dass es ganz und gar nicht generisch ist. Die folgenden Szenen sind schockierend und werden viele Spieler abschrecken. Aois Begründung für ihre Untreue ist, dass sie gar kein Mensch ist, sondern ein literarisches Konzept. Sie steht stellvertretend für die tausenden Mädchen in Eroge, die man als Spieler sonst so erobern kann. Ihre Aufgabe sieht sie in dem Sammeln von Sexszenen und den dazugehörigen CGs. Während man als Spieler auf der „Aoi-Route“ war, hat sie ihre eigenen Routen erkundet, immer auf der Suche nach Events, Bildern, Szenen.

Als ob das nicht verrückt genug wäre, geht das Spiel dann noch mal 300% weiter. Shinichi ruft den Liebhaber seiner Freundin dazu und fordert beide auf, in seinem Haus Sex zu haben. Wenn er Aoi nur halten kann, indem er ihr diese Freiheit zugesteht, dann soll es wohl so sein. Wir bekommen als Leser dann eine unfassbar bedrückende Sexszene, in der wir „unsere“ Freundin beim Sex mit einem anderen Jungen beobachten. Sie steht dabei irgendwo zwischen Geilheit und Angst vor den Folgen, denn sie hat sich trotz ihrer Aufgabe als „Gottes CG-Sammlerin“ verliebt. Der Protagonist lässt es sich dann nicht nehmen, selber mitzumachen und es kommt zu einem Dreier.

Die Szene eskaliert völlig, als Miyuki unter dem Bett hervorkriecht und Aoi mit einem Baseballschläger totschlägt.

„Du hast mir die Treue geschworen und mich dann verraten!“ wirft sie Shinichi vor.

Nein, Moment, das tut sie nicht. Sie wirft es UNS vor.

Dem Leser.

Mir.

Sie guckt mich direkt durch den Bildschirm an.

Totono ist meta!

Miyuki ist sich voll bewusst, dass wir Leser ihr vorhin in ihrer Route noch die ewige Liebe versprachen. Seit wir auf der Aoi-Route sind, wird sie von Hass und Zweifeln zerfressen, warum wir ihr das antun. Wenn dann Shinichi bzw. wir auch noch zulassen, dass unsere neue „große Liebe“ Aoi mit anderen Männern schläft, dann verliert sie den Verstand und schlägt zu. Sie tötet Aoi, eine Katze und bricht Shinichi alle Knochen. Am Ende der Szene ruft sie „Gott“ an und „patcht“ das Spiel, wie Aoi schon vor ihr. Dann geht das komplette Programm ohne Zutun des Lesers aus.

Diesen Schock musste ich erst mal verdauen.

Es stellt sich hier endgültig heraus, dass Totono gar kein High School Eroge ist, sondern eine Diskussion über die Natur von Visual Novels und ihrer Leser. Eroge mit mehreren Routen geben einem in der Regel die Auswahl zwischen verschiedenen Mädchen. Jede Route ist dabei ein „Paralleluniversum“, in dem niemand etwas von der Existenz anderer Routen weiß und man darum auch nicht wegen „Untreue“ angegriffen wird, nur weil man hintereinander alle Mädchen erobert. Totono folgt augenscheinlich dem gleichen Ansatz, aber kritisiert den typischen „hedonistischen“ Eroge-Spieler dann direkt durch seine Meta-Narrative. Das geht weit über einfache self-aware Witze hinaus, wie sie auch in einigen anderen Eroge vorkommen.

Wenn man das Spiel dann wieder startet, befindet man sich in Miyukis gepatchtem Modus, in dem sie alles kontrolliert. Shinichi, de-fakto versklavt, ist mit ihr zusammen, pikanterweise in der Wohnung des Jungen, mit dem Aoi geschlafen hat. Aoi ist hingegen aus der Welt gelöscht worden, denn Miyuki will keine Konkurrenz. Die meisten Funktionen des Spiels, wie Speichern und Laden, sind deaktiviert. Jeden Tag sieht man nur kleine Szenen, wie Miyuki und Shinichi zusammenleben, immer die gleichen, ein nie endender Loop.

Wenn Shinichi schlafen geht, spricht Miyuki direkt mit dem Leser. Manchmal sagt sie uns, dass Widerstand zwecklos ist, manchmal fleht sie uns an, doch bitte sämtlichen Sabotagen zu unterlassen. Alle Szenen dieser Art sind hervorragend gemacht und erzeugen eine Menge Gänsehaut. Ihr Sprite wird immer ganz groß wenn sie den Leser anspricht, als ob sie nah an den Bildschirm rangeht. Der Übergang zu den Metaelementen ist dabei immer nahtlos, überraschend, stellenweise sogar angsteinflößend wie ein Jump-Scare.

Das Ziel ist es nun, aus dieser kafkaesken Alptraumwelt zu entkommen. Dafür muss man die streng kontrollierte Welt nach allem absuchen, was Miyuki vielleicht übersehen haben könnte. Man kann die Welt nur sehr eingeschränkt erkunden, aber über dutzende von Wiederholungen der immer gleichen Szenen entstehen hier und da Unterschiede, Risse in der nur vermeintlich perfekten Kontrolle von Miyuki. In diesem Abschnitt von Totono liest man weniger eine Visual Novel, sondern befindet sich als Leser vielmehr direkt in einem Duell mit einem der Charaktere. Es ist faszinierend, wie viele kleine „Meta-Ideen“ in diesem Abschnitt stecken. Man wähnt sich zum Beispiel schon sicher, bis herauskommt, dass Miyuki die Textlog lesen kann und darum immer weiß, was der Spielercharakter gerade denkt und tut. Ich habe herzlich gelacht, als Miyuki als Geste des guten Willens die Speicher- und Ladefunktion des Spiels wieder aktivieren will, nur um festzustellen, dass man damit nur kleine romantische Szenen mit ihr laden kann.

Je länger man in Miyukis Welt ist, je mehr man versucht, aus ihrer Kontrolle zu entfliehen, desto mehr wird man als Leser gezwungen, sich mit der grundlegenden Aussage auseinanderzusetzen, die Totono dem Spieler so gnadenlos ins Gesicht wirft. Das Duell zwischen ihr und dem Spieler belastet Miyuki nämlich enorm. Sie ist erstaunlicherweise nicht die bösartige Mörderin, für die man sie nach ihrem „Baseballschläger-Massaker“ halten möchte. Jeder Versuch, ihre Modifikation des Spiels rückgängig zu machen, steigert ihre Verzweiflung. Sie will Shinichi eigentlich gar nicht versklaven und uns nicht als Feind haben. Sie will nur die Liebe, die wir ihr in ihrer Route so sorglos versprochen und in Aois Route noch sorgloser wieder entzogen haben. Sie hat in einer sehr abstrakten Szene sogar Sex mit uns. Nicht mit Shinichi, sondern direkt mit uns, dem Leser. Das ist keine Falle, denn sie möchte in Wahrheit auch aus dieser kranken Scheinwelt heraus, da sie weiß, dass dieser Zustand nicht haltbar ist.

Wer ist hier jetzt eigentlich der Böse?

Totono verurteilt?

Am Anfang war ich angestachelt. Sie hatte nicht nur gerade mein Routen-Mädel erschlagen, sondern mir als Spieler die Kontrolle über mein eigenes Spiel entzogen! Dann hat sie noch die Frechheit, mich, den Leser, als treuloses Schwein hinzustellen! Nachdem ich jedoch sah, wie viel Schmerz ihr meine Entscheidungen bereitet haben, musste ich allerdings mehr und mehr feststellen, dass Totonos Kritik am Eroge-Leser schon ins Schwarze trifft.

Die Art und Weise, wie man an ein Eroge normalerweise herangeht, ist tatsächlich komplett unmoralisch. Man sucht sich sein Mädel aus wie ein Pferd vom Züchter. Man hat seinen Spaß, sammelt alle Sexszenen und vergisst sie dann schnell wieder. Danach geht man zum nächsten Mädchen. Obwohl so viele von „Waifus“ reden, behandeln sie die Heldinnen noch schlechter als Prostituierte. Natürlich sind so gut wie alle Eroge bewusst so designt. Die Aussage Totonos steht trotzdem, wenn man mal ehrlich ist: wir Erogeleser sind unromantische und wertelose Opportunisten.

Totono belässt es nicht bei der Kritik, sondern zwingt uns strukturell sogar, uns zu bessern. Die Flucht aus Miyukis Welt kann nur gelingen, wenn wir uns komplett mit ihr beschäftigen, ihr zuhören, auf alle Details achten, kurzum: sie als Menschen mit Gedanken und Träumen wahrnehmen, nicht als „Waifu“, die wir nur ins Bett bekommen wollen. Das fällt denkbar schwer, da sie ja auch die Antagonistin dieses Abschnittes ist. Der finale Test lässt reihenweise oberflächliche Leser scheitern: man muss 10 Fragen zu ihr beantworten, zu ihren Hobbys und Ansichten. Die Antworten weiß man, wenn man ordentlich gelesen und zugehört hat.

Wenn man das geschafft hat, kommt die Überraschung: ihre Persönlichkeit ist teilweise zufällig generiert. Bei manchen Spielern mag sie Tennis, bei anderen Fußball. Es gibt also keinen fixen Lösungsweg, den man im Internet nachschlagen könnte. Miyuki bedankt sich dann direkt beim Leser, dass wir uns trotz des Hasses und der schwierigen Situation für sie interessiert haben.

Das traf mich direkt ins Herz.

Am Ende schafft man es, ihre Kontrolle über die Welt zu beenden und Aoi wiederzuholen. Das Spiel gibt einem nun eine letzte Wahl zwischen den beiden. Im Epilog trifft man dann nur noch die Gewählte. Sämtliche Bilder und Auftritte des anderen Mädchens werden gelöscht, sogar in der Galerie und im Introfilm. Man kann kein neues Spiel beginnen, sondern ist auf ewig auf den Epilog mit dem ausgewählten Mädchen festgelegt. Da finden wir die Aussage von Totono noch ein letztes mal wieder: stehe zu deiner Entscheidung und nimm die Charaktere ernst.

Fazit

Man kann Totono nicht wirklich bewerten. Es ist kein Eroge im eigentlichen Sinne, sondern eine „Erfahrung“, die, so klischeehaft das klingen mag, zum Nachdenken anregen soll. Die Metaebene kommt überraschend und verleiht dem davor eher langweiligen Spiel enorme Spannung. Der moralische Vorwurf an den Spielern ist durchaus gerechtfertigt, wobei es weniger um eine Anklage und mehr darum geht, den Lesern vor Augen zu führen, wie oberflächlich und ehrlos viel zu viele von ihnen mit den angeblich so geliebten Charakteren umgehen.

Das ist nicht einfach zu lesen, Totono erwartet Aufmerksamkeit und Hingabe. Manch einer könnte sogar auf die Idee kommen, dass es nur darum geht, den Leser zu schocken und in Depressionen zu treiben. Im Endeffekt ist Totono aber eine Liebeserklärung an die Welt der Visual Novels, denn der Leser wird aufgefordert, sein Hobby ein bisschen ernster zu nehmen.

Das kann man nur unterstützen und darum gibt es von mir eine uneingeschränkte Empfehlung.

Cross

Mittlerweile nur noch ein Gast in der Welt der Visual Novels, aber alte Liebe rostet nicht.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert