Es ist Heiligabend – ein Datum, das für Fans von Key-Visual-Novels auch als der Geburtstag von Nagisa Furukawa bekannt ist. Nagisa ist schließlich das Hauptmädchen aus Clannad und somit der Grund, weshalb viele von uns Rotz und Wasser geheult haben, als sie die Afterstory gelesen oder sie in der Anime-Adaption, die ebenfalls der Hauptgeschichte folgte, gesehen haben.

Clannad selbst ist ein Meisterwerk des dramatischen Erzählens, eine Liebesgeschichte von seltener Schönheit und eine der am meistgeschätzten Visual Novels aller Zeiten, mit einer Animeadaption, die ähnliche Lobeshymnen erhalten hat.

Doch was, wenn die Hauptgeschichte von Clannad nicht Nagisa, sondern Tomoyo gewidmet gewesen wäre? Was wäre, wenn stattdessen Tomoyo die Hauptfigur der Afterstory gewesen wäre? Dieses Thema wird von Tomoyo After: It’s a Wonderful Life aufgegriffen. Man könnte meinen, es stelle die Frage: „Wie sähe die Welt aus, wenn es Nagisa nicht gäbe?“

Für viele mag diese Frage suspekt erscheinen, wenn nicht sogar ketzerisch. Besonders, wenn man dann noch den Fakt mitbekommt, dass Tomoyo After ein Eroge ist. Es wagt also nicht nur, die Perfektion infrage zu stellen, sondern verdunkelt potenziell auch den makellosen Ruf von Clannad durch seine Existenz als „Pornospiel“. Zumindest sind das die Gedanken, die oft im Zusammenhang mit Tomoyo After auftauchen, falls man überhaupt von diesem Spiel gehört hat. Tatsächlich kann man behaupten, dass Tomoyo After oft entweder gänzlich unbekannt bleibt oder als obskures und unwichtiges Spiel abgetan wird – insbesondere, da es keine Animeadaption davon gibt. Dies macht es für Anime-Zuschauer von „Clannad“, die mit Visual Novels wenig vertraut sind, nahezu unzugänglich.

Das Szenario

Okay, Englisch sollte man schon können, um die VN zu verstehen …

Das Spiel knüpft an das Ende der Tomoyo-Route aus Clannad an und verfolgt eine eigenständige Geschichte, losgelöst von den anderen Routen der Original-Visual-Novel.

In dieser Welt ist Tomoya Okazaki, der Protagonist von Clannad, weiterhin die zentrale Figur. Er befindet sich in einer Beziehung mit Tomoyo, der Heldin dieser Geschichte. Zusammen mit Tomoyos jüngerem Bruder Takafumi und zwei neuen Charakteren, die eigens für dieses Spiel kreiert wurden, bildet sich ein kleiner, aber feiner Cast. Interessanterweise sind bis auf eine späte Ausnahme in der Geschichte alle anderen Charaktere aus Clannad abwesend.

Ähnlich wie die After Story von Clannad, beschäftigt sich Tomoyo After primär mit den Themen des Erwachsenwerdens, der Übernahme von Verantwortung und dem Leben als junge Familie. In diesem Fall werden diese Themen hauptsächlich durch das Auftauchen von Tomo, einem verlorenen, kleinen Mädchen, vorangetrieben. Während sie nach Tomos echter Mutter suchen, müssen sie in der Zwischenzeit auf Tomo achtgeben und für sie sorgen, wodurch sie sich langsam in einer Existenz als kleine Familie einfinden.

Die Dramatik

Diesem Ratschlag von Tomoyo folgt die VN eher nicht

Wer Clannad kennt, weiß, dass gerade in der Afterstory nicht immer alles schön bleibt und auch dramatische Ereignisse geschehen, die einen zu den Tränen bringen. Auch bei Tomoyo After sollte man sich auf diesen Schlag in die Nieren gefasst machen. Denn hier sieht es nicht anders aus: Auch hier offenbart sich nach einer gewissen Zeit ein dramatisches Ereignis, welches einen emotional mitnimmt. Auch hier müssen unsere Charaktere danach lernen, mit ihren Emotionen rund um diesen Verlust umzugehen. Es ist traurig, es ist emotional und es bringt einen zum Nachdenken. Der hier dargestellte Umgang mit Verlust ist, wie auch in Clannad, hervorragend umgesetzt und zieht den Leser tief in die emotionalen Tiefen der Geschichte. Die Geschichte greift die elementaren Themen von Liebe, Verlust und Trauer auf und verarbeitet diese mit einer Tiefe, die selten in Spielen zu finden ist. Die emotionale Wucht, die sich im Verlauf der Handlung entfaltet, lässt den Spieler nicht unberührt und fordert ihn heraus, sich mit den komplexen Gefühlen der Charaktere auseinanderzusetzen. In diesem Prozess des Umgangs mit dem Verlust gibt es auch eine besondere Szene mit einem bekannten Charakter aus Clannad. Dieser unerwartete Gastauftritt, der genauso wie die anderen Charaktere den Verlust verarbeitet, verstärkt die Dramatik der Situation erheblich und verleiht der Geschichte ein Gefühl von Authentizität und Realismus.

Ist das Leben nicht schön?

So ist das Leben natürlich besonders schön!

Lasst uns kurz abschweifen. Tomoyo After hat einen Untertitel, nämlich „It’s a Wonderful Life“. Manchen wird dieser bestimmt, gerade zur aktuellen Weihnachtszeit, bekannt vorkommen. Es ist nämlich auch der Titel eines bekannten Weihnachtsfilmes aus dem Jahr 1946, der in Deutschland unter dem Titel „Ist das Leben nicht schön?“ bekannt ist.  In diesem Film geht es um einen Mann, der am Heiligabend durch die Intervention eines Engels die Möglichkeit erhält, zu sehen, wie die Welt ohne ihn aussehen würde, als er kurz vor dem Suizid steht. Auf diese Relation habe ich ja bereits in der Einleitung kurz angespielt. Es geht allerdings noch weiter, genauso wie „Ist das Leben nicht schön?“ seinen Hauptcharakter mit einer dramatisch schlechteren Welt konfrontiert, ihn aber dann wieder in seine heile Welt zurückbringt, mit der gelernten Lektion über die Bedeutung des eigenen Lebens, endet die Afterstory von Clannad damit, dass Tomoya nach all den dramatischen Ereignissen, die er erlebt hat, in der Zeit zurückreist und in einer Welt landet, wo diese nie passieren. Tomoyo After hat kein solch „gutes Ende“. Die Verluste sind real und wie die Charaktere lernen, damit umzugehen, ist nicht nur ein Zeitvertrieb, um ein Happy End zu erreichen, wo dies nie geschehen ist, sondern wahrhaftig ein Prozess der Akzeptanz und des persönlichen Wachstums. In Tomoyo After gibt es keine magische Lösung, keinen deus ex machina, der die Probleme auf wundersame Weise verschwinden lässt. Vielmehr geht es um den Kampf, das Leid zu akzeptieren und daraus zu lernen, um weiterzuleben und zu wachsen. Es ist eine realistischere und reifere Herangehensweise an die Geschichte, die eine tiefere emotionale Resonanz beim Spieler hervorruft.

Fazit

Auch ich frage mich, ob mir bis hierhin irgendjemand zugehört hat oder direkt zum Fazit vorgesprungen ist …

Also: „Wie sähe die Welt aus, wenn es Nagisa nicht gäbe?“

Für unsere Charaktere wohl weitaus schlechter. Aber als Geschichte ist „Tomoyo After: It’s a Wonderful Life“ ein beeindruckendes Werk, das aufzeigt, wie tiefgreifend und berührend das Medium der Visual Novels sein kann. Es mag zwar zunächst befremdlich wirken, die bekannte Geschichte von Clannad ohne Nagisa zu betrachten, doch bietet Tomoyo After eine einzigartige Perspektive, die es verdient, wahrgenommen zu werden.

Die Art und Weise, wie Tomoyo After die Themen Verlust, Trauer und persönliches Wachstum behandelt, ist bewundernswert. Die Geschichte vermeidet Klischees und einfache Lösungen und präsentiert stattdessen eine ehrliche und realistische Darstellung der menschlichen Erfahrung. Der Verlust und die daraus resultierende Trauer sind schmerzhaft und schwierig, aber auch integraler Bestandteil des Lebens und der persönlichen Entwicklung. Tomoyo After fängt diese Realität in einer Weise ein, die sowohl herausfordernd als auch erhebend ist.

Es ist eine Erinnerung daran, dass Visual Novels nicht nur Unterhaltung bieten, sondern auch kraftvolle, emotionale Erlebnisse vermitteln können, die nachhaltig im Gedächtnis bleiben.

Insgesamt ist „Tomoyo After: It’s a Wonderful Life“ mehr als nur eine alternative Geschichte zu Clannad. Es ist eine eigenständige Erfahrung, die sich mit wichtigen Themen des Lebens auseinandersetzt und dabei eine eindringliche, emotional reiche Erzählung bietet. Für diejenigen, die bereit sind, sich auf diese Reise einzulassen, bietet Tomoyo After eine lohnende und unvergessliche Erfahrung.

PS: Tomoyo After und der Rest von Clannad sind noch bis zum 04.01.2024 im Steam Sale mit je 70 % Rabatt erhältlich.

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