Bokuten –Why I Became an Angel ist eine ursprünglich 2013 in Japan und dann 2019 auf Englisch erschienene Visual Novel von Overdrive, den Entwicklern von Klassikern wie Edelweiss und Kira Kira. Inhaltlich dreht sich Bokuten um einen kühlen und gefühslosen jungen Mann namens Tomoe, der unfreiwillig mit einem unbeholfenen, aber motivierten Engelmädchen zusammenarbeiten muss, um unglücklichen Liebespaaren zu ihrem Glück zu verhelfen.

Das vorliegende Review beginnt mit einem größtenteils spoilerfreien Teil. Vor dem anschließenden spoilerlastigen Teil wird noch einmal explizit gewarnt.

Teil 1: Herabregnende Engel

Der Protagonist, High School-Schüler Tomoe Kirinokojima, lebt nach einem tragischen Ereignis allein in seinem Haus. Jeden Morgen bekommt er Besuch von seiner quirligen Kindheitsfreundin Naruko, die in Unterwäsche einfach durchs Fenster reinhüpft und das Frühstück zubereitet. Zusammen mit ihrem Schulfreund Kiyohito schlagen sich die drei durch den Schulalltag.

Bis hierhin mag Bokuten generisch erscheinen, aber der Eindruck täuscht.

Eines Nachts, während Tomoe in seinem Garten Bogenschießen übt, fällt ein Engel vom Himmel. Ihr Name ist Aine und sie sucht verzweifelt nach ihrer magischen Gitarre. Diese braucht sie für ihre Arbeit: unglücklich Verliebten zueinander helfen. Tomoe hilft ihr und sie finden die Gitarre, aber die Saiten sind verschwunden. Es stellt sich dann heraus: Der einzige Weg, die Gitarre wieder funktionsfähig zu machen, ist das erfolgreiche Verkuppeln von Paaren.

Aus dieser Situation heraus bilden Tomoe und Aine eine mehr oder weniger zweckmäßige Wohngemeinschaft, da Tomoe es nicht übers Herz bringt, das verzweifelte Engelchen einfach des Hauses zu verweisen. Aine wird kurzerhand an der gleichen Schule angemeldet und in Tomoes kleinen Zirkel aus Freunden integriert. Das alles fällt Tomoe sehr schwer, da er durch die Traumata seiner Vergangenheit sozial isoliert und an den Belangen anderer Menschen komplett desinteressiert ist. Das tolpatschige Engelmädchen, so denkt er, wird er am schnellsten und problemlosesten los, indem er ihre Gitarre schnell repariert und dann jeder seiner Wege geht.

In der Welt von Bokuten brechen Herzen bei Liebeskummer und sonstigen persönlichen Problemen wortwörtlich. Nur Engel können diese abgebrochenen Herzfragmente sehen. Menschen mit zerbrochenem Herzen sind unsicher, traurig und es mangelt ihnen an Selbstbewusstsein. Aines Aufgabe als Engel ist es nun, diese Bruchstücke zu sammeln und die entsprechenden Herzen wieder zusammenzufügen. Die geheilten Personen mit ihrem neuen Selbstbewusstsein sind dann mutig genug, ihre Liebe zu gestehen, sich selbst zu akzeptieren und ihre Probleme zu lösen.

Die Schule, mit all ihren einsamen und leidenden Teenagern und Lehrern, ist für Aine darum das perfekte Jagdgebiet.

Leider ist sie als Engel ziemlich nutzlos, zumal ihre magische Gitarre kaputt ist, und muss darum Tomoe um Hilfe bitten: Mit seiner Fähigkeit im Bogenschießen soll er die Herzfragmente wieder an die richtige Stelle zurückschießen – ganz klassisch per Pfeil. Die beiden machen einen Deal, in dem Tomoe sich bereiterklärt, Aine zu helfen, aber nur, wenn er diese Art der Einmischung in die Privatleben fremder Menschen in freier Entscheidung persönlich verantworten kann.

Der erste Teil von Bokuten besteht aus sechs Geschichten, in denen Tomoe und Aine verschiedenen Charakteren aus der Schule und ihre Sorgen und Nöte kennenlernen.

In jeder Geschichte zerbricht das Herz der behandelten Person und der Spieler hat als Tomoe die Wahl, ob er das Herzfragment per Pfeil zurückschießt oder sich zurückhält und nicht einmischt.

Die Geschichten behandeln dabei typische Probleme junger Menschen (ein hässliches, dickes Mädchen traut sich nicht, ihrem Schwarm ihre Liebe zu gestehen, ein junger Mann unterdrückt seine von der Gesellschaft nicht akzeptierte Homosexualität, eine Teenagerin beginnt ein sexuelles Verhältnis mit einem erwachsenen Mann aus der Nachbarschaft, eine Lehrerin muss sich zwischen den Wünschen ihrer Familie und ihrer Liebe zu einem jungen Musiker entscheiden).

Jede dieser Geschichten beschreibt diese Themen dabei mit absolut schonungsloser Direktheit und Ehrlichkeit.

Hier gibt es keine Sozialromantik oder idealisiertes Anime-Writing. Die Protagonisten leiden und ihre Entscheidungen führen zu realistischen Ergebnissen. Der Spieler selbst bekommt immer ein moralisches Dilemma präsentiert, bei dem es keine richtigen und falschen Entscheidungen gibt – nur Abwägungen. Wenn man zum Beispiel dem hässlichen Mädchen ihr Herz zurückgibt und sie dadurch ihre Liebe gesteht, dann verliert sie ihre beste Freundin, die den gleichen Jungen mochte. Tut man es nicht, kommen diese beiden zusammen und unser hässliches Entlein leidet als drittes Rad in der Beziehung weiter vor sich hin.

Dieser erste Teil von Bokuten ist unglaublich stark geschrieben und ein absolutes Highlight unter der endlosen Masse von klischeehaften Visual Novels mit ihren typischen japanischen Idealisierungen. Der realistische Ansatz und die glaubwürdigen Folgen jeder Entscheidung, egal, wie bedrückend und verzweifelt sie auch sein mögen, zeichnen ein durchgehend faszinierendes Bild einer Gesellschaft, in der unter der ordentlichen und regelbeflissenen Oberfläche ein brodelnder Vulkan voller individueller menschlicher und sozialer Leidensgeschichten durchbricht.

Obwohl man als Spieler pro Geschichte nur eine einzelne Entscheidung treffen darf, ist man immer involviert, da die VN sehr clever strukturiert ist: Man wird zu einer Art Sozialrichter. Durch die Geschichten hindurch bekommt man alle relevanten Informationen präsentiert, bildet sich seine Meinung und spricht am Ende das Urteil per Pfeil (oder eben nicht).

Tomoe und Aine sind dabei immer nur am Rand stehende Beobachter, die nie zu sehr ins Geschehen eingreifen. Diese Neutralität erlaubt dem Leser einen ungetrübten Blick auf die Ereignisse. Die Enden, je nach getroffenen Entscheidungen, sind oft bittersüß und manchmal nicht das, was man erwartet, aber immer auch nachvollziehbar und glaubwürdig.

Ich habe meistens mehrere Minuten vor der Wahl mit mir gerungen, alles noch einmal durchdacht und dann schweren Herzens geklickt. Für das Ergebnis ist man dann selbst verantwortlich. So eine tiefgehende emotionale Teilnahme an einer Visual Novel habe ich nur sehr selten erlebt.

Nach den sechs Kurzgeschichten, die eine Art Common Route bilden, beginnen dann die persönlichen Routen der Mädchen in Tomoes Leben und am Ende die finale Route mit Aine selbst.

Dieser zweite Teil kann nur mit SPOILERN beschrieben werden. Wer Bokuten noch nicht gelesen hat, sollte das also nun tun.

Teil 2: Herabregnende Fehlschüsse

Tomoe und Aine waren im ersten Teil nur Beobachter. Im zweiten Teil beginnt Tomoe je nach Route Beziehungen mit seiner Kindheitsfreundin Naruko, dem Idol Minamo, dem Waisenmädchen Yuri (in einer ähnlichen Situation wie er) und schlussendlich mit Aine.

Ich war zunächst verwundert. Tomoe wird durch den kompletten ersten Teil als unromantischer und zynisch eingestellter Eremit charakterisiert. Dabei steht er bewusst im Kontrast zu Aine, die naiv an die romantische Liebe glaubt und nur selten von ihrer fröhlichen Grundstimmung abweicht. Selbst wenn wir als Leser ihn durch unsere Entscheidungen dazu bringen, sich in die Probleme anderer Menschen einzumischen, tut er dies dennoch immer nur widerwillig und mit Zweifeln. Wir erfahren schrittweise, dass seine Persönlichkeit die Folge eines Ereignisses in seiner Kindheit ist, nämlich der Tod seiner Freundin, an dem er sich die Schuld gibt und durch sein zerbrochenes Herz sich selbst bestraft, indem er sich verbietet, Glück und menschliche Nähe zu suchen. Wie kann so jemand plötzlich doch eine romantische Beziehung zulassen?

Sein persönlicher Zustand wird im Rahmen seiner Charakterentwicklung in der letzten Route näher behandelt, in den Routes davor wird Tomoe jedoch ohne Erklärung „erwärmt“ und ist plötzlich doch in der Lage zu lieben. Sein Charakter wird hier einfach mal in den „Eroge-Modus“ umgeschaltet, weil man dem Finale nicht vorgreifen wollte, aber sich doch dazu entschieden hat, typische „Girl Routes“ anzubieten.

Mein schlechtes Gefühl bewahrheitet sich leider: Während der erste Teil von Bokuten fast alles richtig macht, macht dieser zweite Teil fast alles falsch.

Im Falle des Idols Minamo bekommt man eine unpassende, aber im Endeffekt harmlose Geschichte präsentiert, die sich relativ nah an den Kurzgeschichten des ersten Teils orientiert (auch hier kommt es zur Wahl zwischen Liebe und Karriere). Wäre Tomoe nicht selbst involviert, sondern nur Beobachter, wäre das kein Problem gewesen. Diese Route ist noch am „besten“, danach geht es aber steiler bergab …

Die Beziehung mit dem Waisenmädchen Yuri ist an Absurdität kaum zu übertreffen. Sie hat nämlich eine kleine Schwester, die das Gefühl hat, dass Tomoe ihre große Schwester „stiehlt“. Aus dieser Angst heraus beginnt sie, die Beziehung zu stören. Das Ganze eskaliert dann darin, dass das kleine Mädchen mit einem Baseballschläger alle zusammenschlägt und dann mit Gewalt eine kranke, inzestuöse Sexbeziehung mit ihr, ihrer Schwester Yuri und Tomoe erzwingt.

Ich habe „Bokuten“ für den realistischen Ansatz gelobt. In dieser Route wird dieser nicht nur komplett aufgegeben, sondern die VN degradiert sich ohne Grund selbst zu einem lachhaft verrückten Fetisch-Eroge an der Grenze zur Selbstparodie. Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte, als meine Entscheidung zu einem Ende führte, wo die kleine Vergewaltigerin von der Klippe springt und man ihrer Schwester erzählt, sie sei zu Verwandten gezogen (ich habe mich fürs Lachen entschieden).

Nach dieser völligen Entgleisung setzt Bokuten in der Route der Kindheitsfreundin Naruko noch einen drauf. Man erfährt, dass die Engel den Menschen im Endeffekt nur schaden. Immer, wenn sie ein Paar zusammenbringen, trennt sich dafür woanders ein anderes Paar. Es gibt nämlich nur eine begrenzte Anzahl an roten Schicksalsfäden, die die Engel dafür verwenden, und die rotieren fröhlich durch die Menschheit und sorgen dabei für Scheidungen und Break-Ups.

Dieser Diabolus ex Machina ist zwar nicht so kreischend lächerlich wie die Inzest-Sisters, aber auch hier wird das komplette Writing und alle etablierten Konzepte mit Füßen getreten.

In den Kurzgeschichten ging es immer darum, dass man sich sein Glück mit Mut und Arbeit verdienen kann. Die zerbrochenen Herzen waren durchgängig metaphorisch für eine noch nicht abgeschlossene Selbstfindung und Persönlichkeitsbildung junger Menschen verwendet worden. Sobald ein Charakter wieder ein heiles Herz hatte, zu sich und seiner Persönlichkeit stand und aktiv wurde, haben sich seine Probleme auf die eine oder andere Art gelöst. Das ging nicht immer gut aus, aber die Figuren trafen zum ersten Mal bewusst eigene Entscheidungen und führten ein selbstbestimmtes Leben. Das ist nicht nur realistisch, sondern sogar eine schöne Moral, gerade in dieser Zeit, wo so viele Menschen nicht zu sich stehen und keine wichtigen Entscheidungen treffen wollen.

In der Naruko-Route wird dieser tolle Ansatz zerstört, indem plötzlich magische Engelsartefakte für Glück und Unglück sorgen. Da verlassen wir das echte Leben und betreten eine Welt, in der niemand mehr für seine Entscheidungen verantwortlich ist. Die Liebe endet, weil der glitzernde Schicksalsfaden abgehauen ist. Tomoe und Naruko wollen deshalb mit aller Macht VERHINDERN, dass sie sich verlieben, weil sie sonst vom magischen Leuchtefaden verflucht werden. Bokuten präsentiert diese Situation als ernste Tragödie und im Endeffekt ist es das auch: Wie die Liebesfäden sind auch Sinn und Verstand aus der Visual Novel verschwunden.

Die Aine-Route führt diesen Stuss fort. Ich will ganz ehrlich sein: An diesem Punkt war ich bereits so entgeistert und frustriert, dass ich nur noch aus morbider Neugier weitergelesen habe, ob sich die VN noch weiter selbst zerstören kann. Auf die Details habe ich dabei nicht mehr so geachtet, sie spielen eh keine Rolle. Der Planet Erde ist jedenfalls darin ein aktiver Charakter mit gebrochenem Herzen, Tomoe wird durch seine Dienste in Engelssachen selber ein Himmelsbewohner, Aine ist (ÜBERRASCHUNG!!!!!!!!!!) die tote Freundin aus Tomoes Kindheit und es gibt ganz viel unverdientes Melodrama. Ich war erleichtert, als der letzte Credit-Roll über den Bildschirm flimmerte.

Fazit

Bokuten – Why I Became an Angel ist eine allumfassende, multidimensionale Tragödie. Da wird in der ersten Hälfte mit viel Sorgfalt und Liebe eine Erzählung aufgebaut, die den Leser mit ihrer kompromisslosen Hingabe an ehrlichem und realistischem Sozialdrama anregt und durch die Entscheidungen clever einbindet, nur um in der zweiten Hälfte mit himmelsschreiendem Animu-Blödsinn alles wieder einzureißen. Was für eine absurde, unglaubliche und völlig unnötige Selbstzerstörung!

Ich kann natürlich nur spekulieren, aber es wirkt, als ob die Macher Angst vor der eigenen Courage hatten und nach einer untypisch anspruchsvollen Kurzgeschichtensammlung doch noch ein handelsübliches Standard-Eroge mit Routes machen wollten, um den ignoranten Kunden nicht zu sehr zu vergraulen. Das Ergebnis ist eine schizophrene Missgeburt, die ihre eigenen Konzepte ohne Sinn und Verstand durch den Fleischwolf dreht und in einer Route sogar so durchgeknallt ist, dass man nur noch darüber lachen kann.

Ich bin mir absolut nicht sicher, ob ich eine Empfehlung für dieses inkohärente Wirrwarr geben kann. Die erste Hälfte gehört zum Besten, was ich in Visual Novels lesen durfte. Die zweite Hälfte ist, in Relation zur ersten, das mit Abstand Schlechteste, was mir seit langer Zeit untergekommen ist.
Da kannst du, lieber Leser, draus machen, was du willst.

Um im Stil der zweiten Hälfte der Visual Novel zu bleiben: Bokuten hat mein Herz gebrochen und die Engel haben sich alle kreischend aus dem Staub gemacht. Schade!

Cross

Mittlerweile nur noch ein Gast in der Welt der Visual Novels, aber alte Liebe rostet nicht.

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